Zukunftsforschung: Prognose und Zukunftsgestaltung

Zukunftsforschung: Prognose und Zukunftsgestaltung
Zukunftsforschung: Prognose und Zukunftsgestaltung
 
Vielleicht erscheinen die Konturen der Futurologie auch deshalb manchmal etwas unscharf, weil sie noch eine junge Wissenschaft ist. Wobei schon diese Feststellung manchem Kritiker zu weit geht. Denn die Debatte um die Wissenschaftlichkeit dieser Disziplin ist auch heute noch keineswegs beendet. Dafür gibt es mehrere Gründe, die allesamt an den Fundamenten der Futurologie rühren: Sie bewegt sich entlang den Grenzen mehrerer Fachwissenschaften; sie selbst beinhaltet zwei gegensätzliche Strömungen, nämlich einen eher technikzentrierten Ansatz und eine humanistisch orientierte Strömung; schließlich erheben Futurologen sogar den Anspruch, nicht nur mögliche Zukünfte zu er- oder berechnen, sondern die Zukunft der Welt selbst zu gestalten.
 
 Die Geburtsstunde der Futurologie
 
Ist die Zeit der Futurologie gar schon abgelaufen, bevor die Zukunft richtig begonnen hat? Die Frage ist weit mehr als ein bloßes Bonmot. Sie führt mitten hinein in die Zeitumstände ihrer Gründung und schlägt am Ende des 20. Jahrhunderts den Bogen zurück zu dessen Anfang. Eindrucksvoll markiert die Geschichte der Futurologie auf diese Weise die geistigen Eckpunkte einer Ära, die zwar nicht die Utopie erfand, aber den idealen Nährboden für deren säkularisierte Spielart lieferte, eben die Futurologie.
 
Der Begriff entsprang nicht etwa dem Hirn eines Naturwissenschaftlers oder Technikers. Ossip K. Flechtheim war es, ein Politikwissenschaftler, der ihn 1943 in die Welt setzte und sich einen großen Teil seines weiteren Lebens damit beschäftigte. Er prägte ihn während seines Exils in den USA, und den entscheidenden Anstoß für diese Denkrichtung lieferte ihm die damals an Zukunftsfragen, wie Flechtheim sie stellte, geradezu provozierend desinteressierte US-amerikanische Gesellschaft.
 
Das mag zunächst überraschend klingen, galt doch der Fortschrittsglaube in den USA geradezu als Nationalgefühl. Doch Ossip K. Flechtheim konstituierte die Futurologie als eine Melange aus Prognostik, Planungswissenschaft und Philosophie der Zukunft. Ihre historischen Wurzeln aufgreifend, beschäftigt sich die Philosophie dabei schwerpunktmäßig mit Ideologie- und Utopiekritik. Es geht also nicht nur um das Vorhersagen kommender Dinge, sondern um das Vorausdenken möglicher Zukünfte.
 
Die zentrale Funktion sah der Vater der Futurologie daher darin, die Aufgaben zu definieren, die für den Übergang der ganzen Menschheit in eine lebenswerte Zukunft bewältigt werden müssen: An erster Stelle gilt es, den Krieg aus der Welt zu schaffen und Frieden zu etablieren. Sodann muss der Mensch das Bevölkerungswachstum in den Griff bekommen und den Hunger und die Armut vor allem in Entwicklungsländern beseitigen. Weiter ist es nötig, die Naturzerstörung und den Raubbau zu beenden. Innerhalb der Gesellschaft muss die Ausbeutung überwunden werden, die Staaten sollen sich demokratisch und frei von Unterdrückung entwickeln können. Und nicht zuletzt setzt Flechtheim das Ziel, die Sinnentleerung der Moderne zu überwinden, damit sich der Mensch zu einem kreativen und humanen Wesen entwickeln kann.
 
Futurologie, wie Flechtheim sie sah, ging damit weit über das Zukunftsbild der US-amerikanischen Gesellschaft mit ihrer damals noch ungebrochenen Technikeuphorie hinaus. Und er legte mit seiner Definition dieser Disziplin zugleich den Grund für eine bis heute anhaltende Diskussion — die um ihre Wissenschaftlichkeit. Bereits die Tatsache, dass sie ihre Fragen aus unterschiedlichen Feldern bezieht, verhindert, dass sich die Futurologie als geschlossene, eindeutig definierte Wissenschaft darstellt. Der Bogen spannt sich dabei von der Nationalökonomie über Soziologie und Politologie bis hin zu den Naturwissenschaften und der Technik. Je nach Interesse des Fragenden verlagern sich die Schwerpunkte und erweisen sich unterschiedliche methodische Ansätze als brauchbar.
 
Die Urheberschaft Flechtheims wird gelegentlich übersehen. Stattdessen verlegen einige Autoren die Geburtsstätte der Futurologie nach Kalifornien, in die Denkfabrik der Rand Corporation. Tatsache ist jedoch, dass man dort erst ein paar Jahre später begann, Zukunftsforschung in großem Stil zu treiben. Anders als Flechtheims mehrdimensionales Konzept betrachteten die Rand-Forscher die Zukunft eher eindimensional als Frage nach der zukünftigen technologischen Entwicklung. Sie etablierten also nicht die Futurologie selbst, sondern den zweiten, technikzentrierten Flügel dieser Disziplin.
 
 Die Zukunft wird zwiespältig
 
Als Flechtheim den Begriff Futurologie in die Welt setzte, war diese gerade dabei, in Schutt und Asche zu zerfallen. Für jene, die der geistigen und physischen Barbarei des Nationalsozialismus entkommen waren, hatte Zukunft gewiss einen zwiespältigen Charakter. Die rein positiv gedachte Utopie verlor dabei auch deshalb an Kredit, weil die Urheber der nationalsozialistischen Barbarei im Kern ihrer Ideologie ebenfalls eine utopische Komponente hegten: Sie wollten einen neuen Menschentyp erschaffen.
 
Wer zur Mitte des 20. Jahrhunderts über Zukunft philosophierte, tat dies also unter besonderen Zeitumständen. Im größeren geistesgeschichtlichen Rahmen betrachtet, trat die Zwiespältigkeit der Zukunft bereits zu Beginn dieses Jahrhunderts zutage. Flechtheim selbst weist auf zwei deutsche Denker hin, die mit der schmerzlichen Erfahrung des Ersten Weltkriegs in frischer Erinnerung die Frage nach der Zukunft stellten und — jeder auf seine Weise — radikal beantworteten: Oswald Spengler und Walther Rathenau.
 
Oswald Spengler sagt 1918 im ersten Band des Werks »Untergang des Abendlandes« ein Zeitalter der Katastrophen und Kriege, der Diktatur und Vermassung vorher. Walther Rathenaus Analyse der Zeitumstände fällt ganz ähnlich aus. Er befürchtet indes neben dem Verfall von Kultur und Moral auch die Zerstörung der Wälder und Naturschätze. Anders als Spengler verharrt er nicht im Kulturpessimismus, sondern sieht aus dem Verfall eine neue Tatkraft des Menschen entstehen und damit eine Wende zum Besseren. Im Kern glaubt Rathenau daher an die Kraft der Utopie.
 
 Die zukunftsgestaltende Kraft der Technik
 
Während und nach dem Zweiten Weltkrieg bahnten sich mit Erfindungen wie dem Transistor und dem Computer jene großen technischen Neuerungen an, die zur bisher umfassendsten industriellen Revolution führten und die modernen Gesellschaften vollkommen umkrempelten — ein Prozess, der noch immer unvermindert anhält. Dies macht verständlich, weshalb so viele Zukunftsforscher zu dieser Zeit gerade der Technik eine Schlüsselrolle bei der Zukunftsgestaltung beimaßen. Folgerichtig fragten Zukunftsforscher vor allem nach den künftigen technischen Entwicklungen und Möglichkeiten. Die vornehmlich technikzentrierte Futurologie nahm einen gewaltigen Aufschwung und erlebte in den 60er-Jahren des 20. Jahrhunderts ihre vielleicht beste Zeit.
 
Doch aus dem Blickwinkel des ausgehenden zweiten Jahrtausends hat die utopische Überhöhung von Technik inzwischen ausgedient. Der anfangs weitgehend ungebrochene Fortschrittsglaube machte vor allem in den 70er-Jahren des 20. Jahrhunderts seine entscheidende Krise durch. Er ist den Fieberkrämpfen zwar nicht gänzlich erlegen, er hat aber sehr viele Anhänger verloren. Inzwischen nimmt ein Großteil der Menschen der Technik gegenüber eine ambivalente Haltung ein: Die Vorteile nehmen sie ebenso wahr wie die Gefahren, und über beides lässt sich relativ entspannt diskutieren. Zumindest gilt dies auf politischer Ebene, die den einst leidenschaftlich und oft ideologisch geführten Grundsatzdiskurs entschärft und in der Form von Technikfolgenabschätzung institutionalisiert hat.
 
 Das Ende der Utopie
 
Trotz der ungeheuer dynamischen Entwicklung verweist das Ende des 20. Jahrhunderts in einigen zentralen Punkten wieder auf seinen Anfang: Oswald Spengler hatte bereits den Niedergang der großen politischen Entwürfe, der großen sozialen Ideen klar vorausgesehen. Und spätestens mit dem Ende der Sowjetunion zeigt die Utopie als einst Sinn stiftende Kraft in einer von Sinnentleerung bedrohten Welt kaum zu übersehende Symptome der Auszehrung. Mehr noch, so konstatiert auch Flechtheim, die modernen Gesellschaften laufen Gefahr, vor lauter Skepsis und Zweifel jegliches utopische Denken von vornherein abzuwürgen. Tatsächlich leben wir mitten im krisenhaften Übergang von der vormaligen Industrie- in die rasch um sich greifende Informationsgesellschaft. Der Vorgang ist in seiner Dramatik und kritischen Zuspitzung — man denke nur an die ungelöste Frage der Arbeit — vergleichbar mit den sozialen und politischen Erschütterungen beim Übergang von der Agrar- zur Industriegesellschaft. Schon deshalb ist die intime Kenntnis der Vergangenheit für den Zukunftsforscher kein unnützer Zierrat.
 
Es ist keine unzulässige Verkürzung, wenn man das Geschehen der letzten Jahrzehnte als den Kampf um die Vorherrschaft zwischen Mensch und Maschine charakterisiert. So ist es auch kein Wunder, dass Automation, Information und Kommunikation wichtige Felder für die Zukunftsforschung sind. Allerdings besetzte vor allem die techniklastige Fraktion innerhalb der Futurologie diese Felder und handelte sie dementsprechend ab. Kurz, man beschränkt sich oft nur auf die Prognose neuer Technologien in diesen Bereichen und betrachtet die sozialen Folgen eher als — meist positiv gedachte — logische Konsequenz daraus. Ein Beispiel hierfür mögen etwa die diversen Studien zur Telearbeit sein.
 
Große gedankliche Würfe dagegen, welche die soziale Sprengkraft technologischer Entwicklungen einzuschätzen suchen, blieben in der Futurologie nur einzelnen Vertretern vorbehalten. Das Bemerkenswerte dabei: Häufig handelt es sich in diesen Fällen um Wissenschaftler, die außerhalb ihrer eigenen Disziplin über mögliche Zukünfte nachdachten. Einer von ihnen ist Norbert Wiener, der den Begriff der Kybernetik prägte. Wiener war es, der bereits in den 50er-Jahren des 20. Jahrhunderts immer neue Rationalisierungswellen des Informationszeitalters voraussagte, den Übergang vom Werk- zum Denkzeug sah und prognostizierte, dass mit dem Computer die bislang bloß kraftvolle Maschine nun auch Eigenschaften wie Denk- und Erinnerungsstärke hinzugewinnt. Wieners Zukunftsbild lässt selbst die uns heute bedrückenden Details einer Arbeitnehmerschaft erkennen, die durch diese Entwicklung immer weniger anzubieten hat, was sie in Brot und Arbeit hält.
 
 Von der Utopie zur Futurologie
 
Postmoderne lautet der schwammige Begriff, hinter dem wir heute meist nur unsere Ratlosigkeit verstecken. Die Moderne, das Industriezeitalter mit seinem technisch begründeten Fortschrittsglauben, ist passé. Die Gesellschaft von morgen wird zwar gewiss noch mehr von Technik geprägt sein als die des 20. Jahrhunderts, aber uns sind die utopischen Entwürfe abhanden gekommen. Wir wissen nicht recht, woraus diese Gesellschaft ihren geistigen Halt und Gehalt ziehen soll. Das Schlagwort vom Ende der Geschichtlichkeit macht die Runde, und damit stellt sich die Frage, ob es für Futurologie noch eine Zukunft gibt.
 
Die Antwort ist für deren Begründer ein klares Ja. Gerade in krisenhaften Situationen wie der gegenwärtigen zeigt sich die orientierende Kraft der Futurologie. Denn anders als die Utopie hat sie ein vergleichsweise exaktes Instrumentarium entwickelt, mit dem sich aus Vergangenheit und Gegenwart heraus Szenarios möglicher künftiger Entwicklungen ableiten lassen. Dabei spielt das Fortschreiten der Technik eine wichtige Rolle. Schließlich bleibt sie auch in der postmodernen Welt die treibende Kraft. Mehr noch: Sie nivelliert die unterschiedlichen Gesellschaften rund um den Globus, lässt sie im Sinn einer technisch-industriellen Weltzivilisation einander ähnlicher werden, obwohl sie ihre frühere Sinn stiftende Kraft in den alten Industrienationen weitgehend verloren hat.
 
Allein schon dieses weltumspannenden Bedeutungsmusters wegen nehmen die Technik und der technologische Fortschritt einen zentralen Part im Schaffen eines Zukunftsforschers ein. Dabei ist die Futurologie a priori völlig wertoffen, jedenfalls im Ideal. Anders als die negativen Utopien aus der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts webt sie kein Bild der durch Technik pervertierten Gesellschaft, wohl aber analysiert sie mögliche Fehlentwicklungen und warnt vor daraus erwachsenden negativen Zukünften. Futurologie legt also gleichsam die Finger auf Wunden der Gesellschaft, welche die Technik geschlagen hat oder noch schlagen könnte, freilich ohne dabei in Kulturpessimismus zu verfallen: Zwar geht die Sinnentleerung in der Welt auf das Konto der Technik; die Zerstörungen der Umwelt sind offenkundig. Doch, so fasste Flechtheim die andere Seite dieser dramatischen Entwicklung des 19. und 20. Jahrhunderts einmal pointiert zusammen: Es sei auch schön, wenn der Arbeiter unter mehreren Wurstsorten wählen könne.
 
 Futurologie will Zukunft auch gestalten
 
Dem unbestreitbaren Negativsaldo stellen Futurologen wie Flechtheim auf der Habenseite eine gewaltige geistige und kulturelle Weiterentwicklung gegenüber. Die westlichen Industrienationen haben einen Zustand erreicht, der es einer vergleichsweise großen Zahl von Menschen erlaubt, sich kreativ zu betätigen. Dank Massenproduktion ist es möglich, Schiller und Shakespeare einer großen Leserschicht zugänglich zu machen; eine enorm gesteigerte Produktivität und — damit verbunden — verkürzte Arbeitszeiten schaffen dem Einzelnen Freiräume, um anderes zu tun als für den Lebensunterhalt zu sorgen.
 
Auf der anderen Seite ist es trotz aller Entwicklung der Technik bislang nicht gelungen, in den Entwicklungsländern Hunger und Analphabetismus zu beseitigen. Doch daran ist vor allem die wachsende Bevölkerung schuld, weshalb die Futurologie in Flechtheims Verständnis das Eindämmen des Bevölkerungswachstums als Hauptaufgabe der Menschheit definiert. Es geht eben nicht nur darum, technikverliebt Voraussagen darüber zu treffen, wann wir dank welcher Spitzentechnologie schneller zum Mond reisen können oder alle Krankheiten ausgerottet haben werden — auch wenn sich viele Zukunftsforscher just darauf beschränken. Die Futurologie beschreibt nämlich nicht nur Zukunft, sie versucht diese auch in eine wünschenswerte Richtung zu gestalten.
 
In diesem Sinn wirkt der griechische Philosoph Platon, der als Erfinder der Utopie gilt, moderner als viele seiner Nachfolger: Wenn er im »Kritias« die — modern gesprochen — materielle und technische Infrastruktur des sagenhaften Inselreichs Atlantis beschreibt, wenn er mit seinem »Staat« gedanklich das ideale Gemeinwesen entwickelt, dann geht es ihm doch vor allem darum, das menschliche Dasein nach zweckmäßigen und vernünftigen Kriterien zu ordnen und nicht bloß nach unreflektierter Tradition.
 
 Die wechselhafte Geschichte des Utopiebegriffs
 
Seit Platon ist die Technik eine gestaltende Kraft in jeglicher Utopie, im Guten wie im Bösen. Ihre scheinbare Geradlinigkeit gerinnt zur Metapher effizienten Handelns, selbst dort noch, wo sie sich gegen den Menschen kehrt. Ihr fällt die Rolle zu, die materielle Existenz der Gesellschaft zu sichern und damit also der positiven Utopie gewissermaßen aus der Welt des Geistes heraus in die reale Existenz zu verhelfen.
 
Ein Staatsroman von Thomas Morus aus dem Jahre 1516 markiert den Beginn der Begriffsgeschichte der Utopie: »De optimo rei publicae statu deque nova insula Utopia«. Auf der fernen Insel »Utopia« pflegt die Bevölkerung eifrig die Wissenschaften und macht dadurch Erfindungen, die das Leben erleichtern und die erheblich zur Verwirklichung des Idealstaats beitragen. Francis Bacon perfektioniert das System hundert Jahre später in seinem »Nova Atlantis«. In diesem Buch entwirft er erstmals das Konzept einer durchorganisierten naturwissenschaftlichen Forschung, deren Ergebnisse dann in technische Anwendungen münden. In immer neuen Varianten spielen Autoren in den folgenden Jahrhunderten das eine Thema durch, nämlich die Suche nach dem wahren Konstruktions- und Funktionsprinzip der idealen Gesellschaft. In gewisser Weise gleicht die Utopie dabei einem anderen großen abendländischen Mythos, nämlich der verbissenen Suche nach dem Perpetuum mobile, der ewig aus eigener Kraft laufenden Maschine. In beiden Begriffen spiegelt sich eines wider, nämlich das Denken ohne Bezug zur Realität.
 
Tatsächlich entwickelt Morus den Utopiebegriff in einer Zeit der krisenhaften Zuspitzung in Europa, die gerade den Bezug zur Vernunft häufig vermissen lässt. Es ist die Ära religiösen Sinnverfalls, der sich in irrational übersteigerten Bewegungen wie jener der Wiedertäufer einen Ausweg sucht und der sich in der exzessiv grausamen Niederschlagung solcher Hoffnungsgemeinden blutig entlädt.
 
Die Denker der Aufklärung führen die Utopie aus der Sphäre des Irrationalen, indem sie sich auf das rational Denkbare beschränken. Gegen Ende des 19. Jahrhunderts aber beginnt die durchweg positive Grundtendenz der Utopie zu kippen. Der englische Schriftsteller Edward Bulwer-Lytton schildert in »Die kommende Rasse« eine Menschheit, die sich unter die Erde zurückgezogen hat. Zwar gibt es auch bei Bulwer-Lytton noch die im Genre übliche, mehr oder minder fantastische Technik-Grundausstattung. Aber alles hat einen solchen Grad an Perfektion erreicht, dass in dieser ersten Anti-Utopie nur pure Langeweile herrscht.
 
Den Grundkonflikt des frühen Kapitalismus aufgreifend, spinnt der Engländer Herbert George Wells in seinem Roman »Die Zeitmaschine« den Faden weiter in eine Zukunft, wo des Nachts die Fabrikarbeiter aus der Unterwelt hochsteigen, um sich von der am Tag paradiesisch anmutenden Erdoberfläche die Abkömmlinge der einstigen Herrscherklasse zu holen. Die endgültige Unterwerfung des Einzelnen durch eine allumfassende, übermächtige Technik schließlich thematisieren zwei andere Engländer: Aldous Huxley in seinem Roman »Schöne neue Welt« und George Orwell in »Neunzehnhundertvierundachtzig«, beides ebenfalls Anti-Utopien.
 
 Ist Futurologie eine Wissenschaft?
 
Auch wenn Flechtheim den Begriff Futurologie geprägt hat, so weist er selbst darauf hin, dass er dies nicht aus einem begriffsleeren Raum heraus tat. Als er sich während der 30er-Jahre des 20. Jahrhunderts mit dem Thema beschäftigte, stieß er auf Vorläufer, die seinen Ideen sehr nahe waren. So hatte etwa der große Skeptiker Herbert George Wells 1902 gefordert, Wissenschaftler sollten sich um die Zukunftsfragen kümmern. Und 1907 schwebte dem englischen Soziologen S.C. Gilfillan eine exakte Wissenschaft der Zukunft vor, für die er den griechischen Namen Mellontologie vorschlug.
 
Tatsächlich liegt neben dem Rückgriff auf Technik und Fortschritt gerade in der Soziologie und der Nationalökonomie die eigentliche Wurzel der Zukunftsforschung. Bereits der Gründer der Soziologie Auguste Comte sah darin eine Art Futurologie: Wichtig sei Erkenntnis vor allem deshalb, um vorauszusehen und so möglichem Unheil zuvorzukommen. Damit liegt er auf der Linie der Utopisten und französischen Frühsozialisten: Der französische Sozialphilosoph Claude-Henri Saint-Simon etwa verglich die Ausgangslage der Zukunftsforschung mit unserer Kenntnis um Sonnenfinsternisse. So wie der Mensch gelernt habe, diese Ereignisse vorauszuberechnen, so werde er auch politische und soziale Ereignisse vorhersagen können, wenn er nur alle Faktoren berücksichtige und diese methodisch richtig auswerte.
 
Karl Marx schließlich war besessen von der Vorstellung, wissenschaftlich nachzuweisen, wie im kapitalistischen Privateigentum schon dessen Selbstzerstörung mit angelegt sei. Jedes Stadium seines Phasenmodells von der Feudalgesellschaft zum Kapitalismus beinhaltet für ihn all die darauf folgenden Stadien, bis sich die Gesellschaft zwangsläufig sozialistisch organisiert. Gesellschaftliche Entwicklung sah Marx als einen Prozess, der exakten Gesetzen gehorcht und daher auch exakter wissenschaftlicher Forschung zugänglich ist. Ebenfalls im 19. Jahrhundert entwirft der Nationalökonom Friedrich List die Idee einer neuen Wissenschaft der Zukunft: Sie werde zumindest von ebenso großem Nutzen sein wie die Wissenschaft der Vergangenheit und der Zukunft ihre Geheimnisse entreißen.
 
Die Frage nach der Wissenschaftlichkeit von Zukunftsforschung lässt sich dabei nur beantworten, indem man ihre Inhalte und Methoden betrachtet. Flechtheim verweist indes darauf, jede Wissenschaft entstehe aus vorwissenschaftlicher Erfahrung und entwickle sich dann weiter. Deshalb stellt er den exakten Wissenschaften wie Physik oder Mathematik die noch nicht so weit entwickelten, weniger exakten Disziplinen wie Psychologie oder Ökonomie gegenüber. Die Frage, ob die Futurologie eine Wissenschaft ist, entscheidet sich für ihn auch daran, ob futurologische Prognosen nach ihrem Umfang und hinsichtlich ihrer Relevanz mit den Aussagen anderer Wissenschaften vergleichbar sind — eine Frage, die er vehement bejaht.
 
Dipl.-Phys. Bernd Eusemann
 
Weiterführende Erläuterungen finden Sie auch unter:
 
Methoden der Zukunftsforschung
 
 
Albrecht, Helmuth: Technik — Gesellschaft — Zukunft, in: Technik und Gesellschaft, herausgegeben von Helmuth Albrecht und Charlotte Schönbeck. Düsseldorf 1993.
 Bloch, Jan Robert: Utopie. Ortsbestimmungen im Nirgendwo. Begriff und Funktion von Gesellschaftsentwürfen. Opladen 1997.
 Flechtheim, Ossip K.: Futurologie — Möglichkeiten und Grenzen. Frankfurt am Main u. a. 1968.
 Flechtheim, Ossip K.: Ist die Zukunft noch zu retten? Weltföderation — der dritte Weg ins 21. Jahrhundert, herausgegeben von Stefan Mögle-Stade. Neuausgabe Frankfurt am Main u. a. 1995.
 Gehmacher, Ernst: Report 1998. So leben wir in 30 Jahren. Stuttgart 1968.
 Kahn, Herman: Vor uns die guten Jahre. Ein realistisches Modell unserer Zukunft. Wien u. a. 1977.
 King, Alexander/Schneider, Bertrand: Die erste globale Revolution. Bericht zur Lage der Welt zwanzig Jahre nach »Die Grenzen des Wachstums«. Aus dem Englischen. Taschenbuchausgabe München 1993.
 
Menschen im Jahr 2000. Eine Übersicht über mögliche Zukünfte, herausgegeben von Robert Jungk. Frankfurt am Main 1969.
 Rapp, Friedrich: Utopien und Antiutopien, in: Technik und Philosophie, herausgegeben von Friedrich Rapp. Düsseldorf 1990.

Universal-Lexikon. 2012.

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